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Sechster Teil

 
1
 
Mein Willi zog sich in das Badezimmer zurück. Ich erkundete derweil das Obergeschoß. Mir fiel ein, daß Lili uns vor Schlangen gewarnt hatte. „Sie kommen auch die Treppen hinauf.“ Vorsichtig prüfte ich die Umgebung. Eine nackte Glühbirne baumelte von der Decke und warf ihren trüben Schein auf den oberen Teil der Treppe und den vorderen Teil des langen Flures. Überall hingen Spinnweben und eine dicke Staubschicht lag auf dem gekachelten Fußboden. Es roch muffig. Ich stieß die erste Tür auf und tastete im Dunkeln nach einem Lichtschalter. Fand ihn aber nicht. Ich versuchte es im nächsten Raum. Das Geflimmer einer schadhaften Neonleuchte zuckte über den Zementfußboden und die zwei dürftigen Stockbetten ohne Matratzen. Sonst war die kleine, fensterlose Kammer leer. Die dritte Tür. Ich tastete einen Lichtschalter, aber alles blieb dunkel. Gegenüber starrte eine Öffnung in der unverputzten Ziegelmauer. Ich beugte mich zögernd hinein und strengte meine Augen vergeblich an, etwas zu erkennen. Dieser Teil des Flures lag in fast völliger Dunkelheit. Mir war nicht wohl bei dem Gedanken, was ich alles antreffen konnte. Ich tappte nach der nächsten Tür, die sich nur widerstrebend öffnen ließ. Auch hier blieb alles dunkel, und ich zog mich rasch zurück.
Nun kam der letzte Raum an die Reihe. Der düstere Schimmer einer 25 Watt Birne tauchte den recht großen Raum in schummriges Licht. Den Hauptteil füllte das aus Ziegeln gemauerte Ehebett aus, auf dem sich ein Haufen dumpf riechender Matratzen stapelte, die voller Stockflecken waren, mit Spinnweben und Staub überzogen. Daneben stand ein eisernes Bettgestell. Auf dem Boden lag Sand. Eine Tür führte in das angrenzende Badezimmer, das in elegantem Braun und Gold gekachelt war. Trotz der grauen Staubschicht sah man, daß alles neu war. An der Badewanne hingen noch Teile des Klebestreifens mit dem Firmennamen.
Das Schlafzimmer hatte zwei Fensteröffnungen, die nur mit Läden verschlossen waren. Ich stieß sie auf. Vom einen Fenster ging der Blick auf die mit weit ausladenden Bäumen bestandene Plaza, die, obwohl es noch früh am Abend war, bereits still und verlassen dalag. Vom anderen Fenster schaute ich in einen kleinen Innenhof hinab, der zu unserem Haus zu gehören schien. Über das flache, niedrige Dach des Nachbarhauses hinweg sah ich einen schmalen Streifen Strand. Der Sand leuchtete matt im Schein der Straßenlaternen. Dahinter verlor sich das Meer in der Schwärze der Nacht. Nur ein einziges schwaches Lichtpünktchen, ganz weit draußen, stand verloren inmitten des Nichts.
„Geli, um Himmels willen, wo steckst du denn?“ rief mein Willi irgendwo im Haus.
„Ich bin hier oben.“
„Oben? Wieso oben?“ kam seine aufgebrachte Stimme näher. Dann stand er kreidebleich im Türrahmen. „Donnerwetter, jetzt komm halt, wenn ich dich rufe“, herrschte er mich an.
„Was ist denn los. Bist du dem Teufel begegnet?“
„Ja! Geh runter und schau ihn dir an.“
„Verrate mir doch bitte, wo ich schauen soll und was es da zu sehen gibt. Außerdem, schrei mich nicht an. Ich bin unschuldig.“
„Du bist niemals unschuldig. Und jetzt komm und schau dir die Spinne an.“
„Eine Spinne? Deswegen der ganze Spektakel? Schau dich hier mal um. Es wimmelt von Spinnweben. Rate mal, wer die gesponnen hat.“
„O.k.! Ich war es. Ich gebe alles zu, aber ich flehe dich an, komm endlich und schau dir den Satansbraten an“, sagte mein Willi.
Wir tasten uns vorsichtig die steile Treppe hinab. Mein Willi stieß die quietschende Tür auf. Ich schaute in ein Badezimmer, das einen neuen Anstrich bitter nötig hätte. Die Wände ehemals weißen Wände waren voller schwarzer Schimmelflecken. Zu meiner Rechten befand sich ein winziges, dreckverkrustetes Waschbecken mit einem Riß im Porzellan, voraus eine Kloschüssel, daneben die Dusche, versteckt hinter einem zerfledderten, schmuddeligen Plastikvorhang.
„Ziemlich ungemütlich“, sagte ich.
„Hinter der Tür“, flüsterte mein Willi.
Ich beugte meinen Kopf um die Tür und zog ihn blitzschnell wieder zurück.
„Donnerwetter aber auch!“ stieß ich hervor.
Spinnen hatten mich bisher nie geekelt. Dieses fette, haarige Ungeheuer, das mit seinem walnußgroßen Körper und den langen, dicken Beinen eine ganze Männerhand ausgefüllt hätte, ließ aber selbst mir das Blut in den Adern gefrieren.
Wir suchten in der Küche nach einem Besen. Hastig rissen wir alle Schränke auf, wobei die Tür des Einbauschrankes aus den Angeln fiel und mir hart gegen die Schulter prallte. Mein Willi fand unter dem Spülstein Insektenspray. Hintereinander zogen wir Richtung Toilette. Vorneweg, am ausgestreckten Arm, die Spraydose, dann, mit größtmöglichem Abstand, der zum Arm gehörende Willi. Ich folgte ihm dicht auf dem Fuße. Nach einem flüchtigen Blick hinter die Tür sprühte mein Willi in blinder Mordgier die Dose leer.
„Hah!“ sagte er. „Die wäre fertig.“
Wir erstickten fast am Giftdunst, der in den Flur quoll. 
„Dort muß die Tür zum Innenhof sein. Schließ schnell auf, bevor wir tot umfallen“, sagte ich und hielt mir die Nase zu.
Daß mein Willi den Schlüsselbund unverzüglich auf dem Küchentisch fand, nachdem er nur in seinen Hosentaschen danach gesucht hatte, grenzte an ein Wunder. Gewöhnlich verbringt er einen Großteil des Tages auf der Suche nach Schlüsseln. Wer glaubt, es handele sich um eine lästige Schwäche, dem sei versichert, daß es dem Alltag Spannung verleiht, Einfallsreichtum und Kombinationsvermögen schult und immer wieder für ein freudiges Aha-Erlebnis sorgt. Während ich dies am Rande bemerke, versuchte mein Willi den Schlüssel im Schloß zu drehen.
„Probier du mal“, fordere er mich entnervt auf, als ich aufgeregt von einem Fuß auf den anderen trat. Ich tat mein Bestes.
„Laß mich halt machen!“ fauchte er nach ein paar Sekunden.
Ich ließ ihn machen.
„Ich schlag gleich die Tür ein“, knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen.
„Wenn du den Schlüssel abgebrochen hast, wird dir eh nichts anderes übrig bleiben“, sagte ich.
Als wir schließlich auf den Innenhof traten und nach frischer Luft schnappten, war der Schlüssel nur ganz leicht verbogen.
„Ich sah das Biest erst gar nicht“, erzählte mir mein Willi, während wir Arm in Arm zum nächtlichen Himmel empor schauten. „Ich hatte mich gemütlich zu einer Sitzung niedergelassen. Da hocke ich also, brüte vor mich hin und lasse meinen Blick schweifen. Mich traf fast der Schlag, als ich das Ungeheuer plötzlich entdeckte.“
Noch immer quicklebendig, trat es uns wenige Augenblicke später mit ausholenden Schritten im Flur entgegen. Jetzt ging erneut die hektische Suche nach dem Besen los. In der Eingangshalle, unter der Treppe, hinter der Küchentür. Endlich fanden wir ihn auf dem Hof. Ich holte kräftig aus und schlug damit auf das Scheusal. Es schien den Schlag locker wegzustecken. Zielen und dann auch zu treffen war nie meine Stärke. Ich warf den Besen in die Ecke und flüchtete ein paar Stufen die Treppe hinauf, wo mein Willi längst Posten bezogen hatte.
„Schlag sie doch tot!“ schrie er mich an, besann sich dann aber sofort seiner Beschützerrolle.
Entschlossen griff er selber zur Waffe. Blindlings drosch er wieder und wieder mit aller Gewalt damit auf den Boden. Schließlich zersplitterte der Besen. Die Spinne klebte als schmieriger Fleck am Boden.
„Wie ich die Lage sehe“, sagte ich, „schlafen wir lieber im Zelt.“
Mein Willi und ich schleppten das eiserne Bettgestell aus dem großen Schlafzimmer, über den Flur, in einen der vier anderen Räume und schufen damit Platz für unser Igluzelt. Nachdem wir unser Lager hergerichtet hatten, verstauten wir die Rucksäcke gut verschnürt im Einbauschrank.
„Und jetzt lange und ausgiebig duschen. Was hältst du davon?“
Ich zog mich aus und stieg in die neue Wanne. Es tröpfelte spärlich aus der Leitung, als ich die Wasserhähne aufdrehte. Ich drehte ein paar Mal auf und zu, dann gab ich auf.
Mein Willi stellte bei einem Blindversuch fest, daß die Wasserspülung der Toilette nicht funktionierte. Als er sich die Hände wusch, stand er alsbald in einer Pfütze.
„Sehr ordentlich gekachelt, dieses Bad. Aber nicht besonders benutzerfreundlich. Wir werden besser das Spinnenbadezimmer benutzen“, meinte er.
Leider wurde an jenem Abend nichts mehr aus einer erfrischenden Dusche. Als mein Willi dort nämlich den Wasserhahn aufdrehte, bekam er einen kleinen Stromschlag.
Wir saßen uns am Küchentisch gegenüber und knabberten ein paar Kekse aus Lilis Tüte.
„Ich ziehe Bilanz, Boß,“ sagte ich. „Wir sind jetzt genau eine und eine halbe Stunde da. Wir haben unser Lager bereitet, eine Spinne ermordet, den Besen zerschlagen, eine Schranktüre herausgerissen, das Badezimmer unter Wasser gesetzt, einen Schlüssel verbogen, einen Giftgas-Angriff und einen Stromschlag überlebt. Das Haus ist entsetzlich dreckig und ich möchte am liebsten davon laufen. Was tun wir als nächstes?“
„Schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag,“ sagte mein Willi und gähnte laut.
 
 
                                            2
 
Nach dem turbulenten Einzug waren wir früh in das Zelt gekrochen. Zunächst ließ mich die Hitze, die sich in unserer Schlafhöhle staute, nicht ruhen. Ich lag lange wach und lauschte in die Stille. Später erhob sich ein Wind. Es rauschte in den Baumkronen vor dem Haus und klapperte dumpf auf dem Ziegeldach. Die Zeltwand bauschte sich sacht im Luftzug, der durch das Zimmer strich. Eine kleine Brandung rollte an den Strand und bald ging ein heftiger Regen nieder. Während ich lauschte, schlich auf Zehenspitzen der Schlaf herbei.
Erfrischt und ausgeruht erwachte ich nach der ersten Nacht in unserem neuen Heim. Durch das weiße Geflecht des Moskitonetzes, das den Zelteingang verschloß, fiel mein Blick auf den leuchtend blauen Morgenhimmel, der das Fensterviereck ausfüllte. Wohlig räkelte ich mich auf meiner Matte. Von der Plaza drangen Männerstimmen herauf, kehlige, tiefe Laute, in gemächlicher Rede. Eine Horde Spatzen randalierte. Das Meer schwieg. In den salzigen Hauch der Morgenluft mischte sich der Duft nach frisch gebackenem Brot. Ich fühlte mich rundum wohl. Unsere ziellose Fahrt nach Norden hatte ihr Ende gefunden.
Ich blickte auf meinen Willi, der auf dem Rücken ausgestreckt neben mir schlief. Mit halboffenem Mund schnarchte er leise. Dieser Höhleneingang mitten im stacheligen Gestrüpp gehörte mit einem zärtlichen Gutenmorgenkuß verschlossen. Kaum hatte ich meine Lippen auf das röchelnde Loch gesenkt, fuhr mein Willi mit einem Aufschrei in die Höhe. Dabei schlug er seine Schneidezähne an meine Oberlippe, holte gleichzeitig mit beiden Armen aus und schlug mich dabei um ein Haar k.o.
Er schrie, ich kreischte: „Bist du wahnsinnig?“
Ich rieb meine Blessur und starrte ihn fassungslos an.
„Wie kannst du mich so blödsinnig erschrecken?“ schnauzte er mich an und seine schlafverkrusteten Augen funkelten wütend.
„Ich wollte dich nur ganz lieb...“ weiter kam ich nicht.
„Ach, laß mich doch in Ruhe“, raunzte er, riß den Reißverschluß des Moskitonetzes auf und zog, Verwünschungen murmelnd, ab.
Wütend und verletzt kroch ich wenige Minuten später aus unserem Nest. Ich zog den Badeanzug an, schlang mir ein Handtuch um die Hüften und trat an das Fenster. Unter dem dichten Laubdach der mächtigen Bäume saßen vier junge Männer auf der Erde. Sie trugen nichts als kurze Hosen, abgewetzt und verblichen. Sie hatten riesige Fischernetze sorgfältig zwischen den Baumstämmen ausgelegt und flickten daran. Leise plauderten sie miteinander. Im Haus schräg gegenüber lehnte ein alter Mann im Fenster. Sein schlohweißes Kraushaar strahlte im Sonnenlicht und bildete einen lebhaften Kontrast zu seiner sehr dunklen Haut. Hinter ihm, irgendwo im Haus, sang eine Frau mit heller Stimme und ein Säugling schrie. Ein zottiger, magerer Hund döste mitten auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Straße. Seine Beine zuckten rhythmisch. War er Verfolger oder Verfolgter in seinem morgendlichen Traum? Linker Hand lag das Meer wie ein hellblauer Spiegel, der sich am Horizonte im Frühdunst verlor.
„Ach Quatsch!“ sagte ich laut.
Dieser Tag hatte so schön begonnen. Ich beschloß, ihn weiterhin zu genießen, auch wenn mein Kuß, anstatt einen Märchenprinzen einen ekeligen Frosch aufgeweckt hatte. Aber es kam anders.
 
                                           3
 
Ich flitzte die Treppe hinunter und schlüpfte aus dem Haus. Im Spinnenbadezimmer hörte ich meinen Willi rumoren. Nur kurz hoben die jungen Netzeflicker ihre Köpfe, als ich ihnen ein kurzes „Bom dia“ hinwarf. Sie erwiderten meinen Gruß nicht. Obwohl es erst acht Uhr war, brannte mir die Sonne heiß auf den Rücken, als ich aus dem Schatten der Bäume auf den gleißenden Strand trat. Träge schmatzte das Wasser und züngelte gelangweilt am Ufer. Was mir aus der Ferne als hellblauer Spiegel erschienen, war aus der Nähe gesehen eine bräunliche Brühe, auf der eine Zitronenschale und eine Bierdose dümpelten. Kleine Zweige, Blätter und Grashalme schwammen haufenweise auf dem Wasser. Das wirkte nicht gerade einladend, und ich verwarf enttäuscht die Idee eines erfrischenden Morgenbades im Meer. Statt dessen entschloß ich mich zu einem Spaziergang. Sollte der Frosch doch eine Weile in seinem eigenen Saft schmoren.
Lili erklärte mir später einmal, warum das Wasser oft so schmutzig war: Dieser Zipfel der Insel, die nur wenig vom Festland entfernt war, lag nahe der Mündung eines großen Flusses, der besonders nach Regenfällen viel Erde und Gras anschwemmte.
Ich schlenderte barfuß die Wasserlinie entlang durch den feuchten Sand. Weiter oben am Strand lag allerlei Unrat, den die Flut in der Nacht angeschwemmt hatte. Einfache Häuser und Hütten standen nur wenige Meter vom Wasser entfernt, die meisten fest verrammelt; das waren wohl die Sommerhäuser des Mittelstandes aus der Großstadt. Vor einigen spielten Kinder im Sand, kläfften mir giftig die struppigen Köter nach, lugten Frauen neugierig aus offenen Haustüren oder Fenstern.
Ich wanderte immer weiter. Längst lag das letzte Haus weit hinter mir. Vereinzelt standen Palmen auf dem welligen, mit dichtem Dornengestrüpp bewachsenen, unzugänglichen Ödland, das sich breit zwischen dem Strand und einem Wald hinzog. Auch wenn inzwischen der Frühstückshunger in meinen Eingeweiden rumorte, ging ich immer weiter. Sollte der Frosch sich ruhig Sorgen machen. Die Sonne kletterte schnell höher und brannte auf meiner Haut. Ich legte das Badetuch über Kopf und Schultern und wanderte beharrlich weiter.
Langsam wurde das Wasser immer klarer, je mehr ich mich vom Dorf entfernte. Hier stand einem Bad nichts mehr im Weg. Ich ließ das Badetuch in den Sand gleiten und warf mich in das laue Naß. Zuerst planschte ich ein bißchen herum und ließ mich schließlich auf dem Rücken treiben. Das Wasser streichelte meine erhitzte Haut; die klare Morgenluft drang tief in meine Lungen; mein Blick verlor sich im Blau des Himmels.
Irgendwann merkte ich, daß mich die Strömung ein gutes Stück parallel zum Strand nach Norden getrieben hatte. In der Ferne sah ich mein Tuch als roten Fleck im gelben Sand. Langsam schwamm ich zum nahen Ufer, bis ich mit den Händen den Boden berührte. Dann richtete ich mich auf. Zu meinem Entsetzen versank ich mit dem Fuß sofort knietief im Sand, verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser zurück. Egal, wo ich mich auch immer mit Händen oder Füßen abstützen wollte, versank ich in Grund und Boden. Ich wurde ganz kopflos. Wie wild paddelte ich im Wasser herum und versuchte vergeblich Halt auf dem Boden zu finden. Endlich tastete ich eine Stelle, wo ich mich aufrichten konnte. Wie von Furien gejagt rannte ich durch den wabbeligen Sand, bis ich auf festen Boden kam, hastete weiter, die kleine Düne hinauf und ließ mich schluchzend zu Boden plumpsen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. War es das, was man Treibsand nennt? Keine zehn Pferde würden mich je wieder an diesen Strand bringen.
Als ich mich einigermaßen gefaßt hatte, rappelte ich mich auf und eilte zurück, Richtung Dorf. Ängstlich hielt ich mich dem Wasser fern und stapfte mühsam durch den lockeren, heißen Sand der Düne bis dorthin, wo mein Badetuch lag. Inzwischen hatte ich mich von meinem Schreck erholt. Hätte ich den Kopf nicht verloren, sagte ich mir, wäre ich einfach gegen die Strömung zurück geschwommen, bis ich festen Grund gefunden hätte. Ich war froh, daß niemand meinen kläglichen Auftritt gesehen hatte. Der Rückweg schien kein Ende zu nehmen. Schweißgebadet schleuderte ich das Badetuch zu Boden, als ich mich endlich auf unserem schattigen Innenhof auf einen Stuhl fallen ließ.
„Das Meer eine Dreckbrühe. Der Strand eine Müllkippe. Kühler Schatten unter Palmen? Pah! Da lache ich nur. Palmen! Ich habe drei oder vier gesehen, in der Ferne inmitten einer dornenüberwucherten Wildnis. Die Sonne knallt dir am frühen Morgen schon erbarmungslos auf den Schädel und am Ende verschlingt dich der Sand“, meldete ich meinem Willi, während ich mit Handcreme und Toilettenpapier meine Fußsohlen bearbeitete, um ein paar Teerbatzen zu entfernen.
Er goß mir eine Tasse Tee ein und sagte:
„Der Kühlschrank ist voller Schimmel; das Abwasser der Spüle geht direkt auf den Innenhof, das wird schön stinken bei der Hitze; bei Tageslicht ist das Haus noch viel schmutziger, als wir dachten; der Hof ist ein Rattenloch, ich hatte heute schon das Vergnügen, eine kennenzulernen; der kleine Dorfladen um die Ecke hat Apothekenpreise. Und jetzt die gute Nachricht: Dreh dich um.“
Hinter mir an der Hauswand war ein Wasserhahn und darüber starrte ein rostiges Rohr aus der Wand.
„Hier kannst du dich duschen, ohne Leib und Leben zu riskieren.“
Mein Willi hatte auch bereits festgestellt, daß einer mindestens einsneunzig groß sein muß, damit er über die Mauer in unseren Hof schauen kann. Wir holten den Küchentisch ins Freie, legten unser Badelaken als Tischtuch darauf und deckten den Frühstückstisch. Mein Willi hatte frisches Brot, Butter und Marmelade besorgt und auf mich gewartet, obwohl ihm der Magen längst knurrte.
„Tut mir leid, das von heute morgen“, sagte er, während er auf beiden Backen mampfte.
Er gestand mir, daß er die ganze Nacht kaum geschlafen habe. Immer wieder sei er aufgewacht, habe ins Dunkel gelauscht und allerlei Geräusche gehört. Erst gegen Morgen sei er dann wirklich eingeschlafen.
„Ich habe lauter wirres Zeug geträumt. Plötzlich hat sich etwas Warmes, Feuchtes an meinem Mund festgesaugt. Ich bin zu Tode erschrocken. Verzeih, Gelimädchen, dein Kuß war der Höhepunkt eines Alptraumes.“
„O.K. Boß. Wenn ich mir die letzten 14 Stunden anschaue, scheint das Leben hier aufregend zu werden.“
 
                                                  4                                  
 
In den Stunden nach dem Frühstück waren wir damit beschäftigt, unseren Innenhof aufzuräumen, schließlich sollte dort unser Hauptaufenthaltsraum sein. In dem Geviert, das wohl sieben mal sieben Meter groß war und allseits von Mauern umgeben, wuchs ein Papayabaum und zwei große Büsche, die wir mit unseren geringen botanischen Kenntnissen eben noch der Abteilung Holzgewächse zuordnen konnten. Eine Menge Unkraut wucherte am Boden. Allerlei Unrat lag herum; in einer Ecke türmten sich Berge von leeren Flaschen; ein kaputter Stuhl streckte unter dem Baum alle Viere von sich, malerisch umwunden von Schlinggewächsen; Bretter und Brettchen moderten allenthalben verstreut vor sich hin. Da und dort bröckelte der Verputz von den bemoosten, schwarzfleckigen Wänden. Das Abflußrohr der Spüle ragte aus der Wand und ergoß die seifigen Fluten mit den Speiseresten auf den Boden. Leider war die Ausflußstelle so niedrig, daß wir kein Gefäß darunter stellen konnten, deshalb installierten wir am Rohrende das Teesieb, um wenigstens die Speisereste aufzufangen. Wir buddelten einen kleinen Graben, um das Wasser vom Haus weg zu leiten. Den riesigen Karton den wir unter der Treppe fanden, füllten wir mit leeren Flaschen
„Die nehmen wir mit, wenn wir zum Einkaufen fahren. Das gibt eine Menge Pfand. Da werden sich Lili und Victor freuen“, sagte ich.
Diese Idee sollte uns noch einige Schweißtropfen kosten und uns entsetzlich blamieren. Doch zunächst stand der Karton mit den Flaschen noch mehr als einen Monat herum.
Als wir auf dem Hof endlich einigermaßen Ordnung geschaffen hatten, brannte die Sonne längst unerbittlich auch in den letzten Winkel und meinem Willi brummte der Schädel von der Hitze, vom Bücken und von der Nervenbelastung. Nervenbelastung? Dreh doch mal in einem tropischen, seit langem von Menschen nicht betretenen Innenhof leere Dosen und Bretter um. Die Bewohner dieser Blechhöhlen und Holzunterstände sind für einen mitteleuropäischen Stadtmenschen alles andere als appetitlich. Mit dem Besen in der rechten Hand und der Angst in Nacken erwarteten wir gespannt, dem ersten Skorpion, der ersten Schlange ins starre Auge zu blicken. Doch glücklicherweise begegneten wir nicht einmal der Ratte.
„Mir ist sogar der Appetit vergangen“, sagte mein Willi, als es längst Zeit für ein Mittagessen war.
„Das ist allerdings bedenklich“, sagte ich. „Aber es trifft sich gut, denn außer einer rostigen Dose Ölsardinen aus dem Küchenschrank, der Rest vom Frühstück und ein paar Krümel vom Abendessen kann ich dir nichts anbieten.“
Mein Willi zog sich zu einem langen Nachmittagsschlaf zurück, während ich meine Putzwut in der Küche austobte. Erst als auch der letzte Teller, der letzte Topf gespült waren, der Kühlschrank vom Schimmel und vertrockneten Speiseresten befreit, die Schränke ausgeputzt, der Herd gewienert und der Boden gewischt, stand mein Willi in der Tür und kratzte sich den nackten Bauch, während er gähnte.
„Nun habe ich Hunger“, sagte er. „Hast du was gekocht?“
Fast wäre ich ihm an die Kehle gesprungen.
Mein Willi beschloß, meiner müden Füße und seines unaufschiebbaren Hungers willen, in dem einzigen Restaurant des Ortes essen zu gehen. Er hatte es bei seinem morgendlichen Einkauf gesichtet. Beim Gedanken an die Zeche verging mir mein eh schon kleiner Appetit, aber ich war zum Streiten zu müde.
 „Es ist gar nicht weit. Man sitzt in einem schönen, schattigen Innenhof. Wir haben das doch verdient, Gelimädchen, nachdem wir den ganzen Tag geschuftet haben. Nach so einem anstrengenden Tag muß ich einfach etwas Warmes in den Bauch kriegen. Ab morgen geben wir dann wirklich kein Geld mehr aus.“
Ich schluckte dreimal über das „wir“ und machte mich dann hastig frisch, denn mein Willi verfiel förmlich vor meinen Augen vor lauter Hunger. Kaum war ich fertig, eilte er mit großen Schritten und ich mit schnellen, kleinen hinter ihm her, über die Plaza, dem warmen Essen entgegen. Leider – oder Gottseidank war es uns nicht bestimmt, von einem weißbefrackten Kellner im grünen Schatten eines gepflegten, pflanzenüberwucherten Innenhofes verwöhnen zu werden, ja nicht einmal von einer schmuddeligen Alten in fettverspritzter Schürze. Das Lokal war nur am Wochenende geöffnet. Mein Willi hatte diese kleine Einzelheit übersehen.
Es war nur unserem beiderseitigen guten Willen zu verdanken, daß der Tag doch noch ein harmonisches Ende nahm. Wir kauften in dem kleinen Laden an der Ecke ein paar Kleinigkeiten für ein einfaches, kaltes Abendessen und beschlossen am anderen Morgen als erstes an das andere Ende der Insel zu fahren, um dort im Einkaufszentrum ein paar Vorräte einzukaufen.
Im letzten Licht des schnell schwindenden Tages saßen wir mit vollen Bäuchen auf der Mauer an der Uferpromenade, welche die Plaza vom Strand trennte und ließen die Beine baumeln. Die männliche Jugend des Ortes hatte sich zu einem Fußballspiel eingefunden. Mein Willi ergriff sofort Partei für die Mannschaft, die von Nord nach Süd spielte. Obwohl mir das piepegal war, mußte ich natürlich dagegen sein. Mich fesselte weniger das Match, als vielmehr die ungemein schönen Körper der Burschen, das Spiel der Muskeln, die glatte, dunkle Haut, die Kraft, mit der sie vorwärts stürmten im Kampf um den Ball.
Als der letzte Kicker das improvisierte Spielfeld verlassen hatte, der Nachthimmel sich mit den südlichen Sternbildern ausstaffiert hatte und Ruhe auf der Plaza einkehrte, füllte sich der Strand erneut mit Leben. Frauen kamen mit Eimern, Körben, Käschern und Laternen, glitten lautlos, samt ihren weiten Röcken, bis an die Hüften ins Wasser. Das Treiben der schweigenden, schwarzen Schatten im Dunkel der lauen Nacht, das Aufblitzen und Herumirren der Laternen auf dem glatten Wasser, machte uns neugierig und doch wagten wir es nicht, einfach hinzugehen und in die Eimer zu schauen. Es wäre uns vorgekommen, als würden wir ohne Einladung ein fremdes Haus betreten.
In den folgenden Wochen kamen die Frauen noch manche Nacht. Tagsüber warfen sie an diesen Stellen eimerweise Fischabfälle ins Wasser, um so die Krustentiere anzulocken, die sie nachts einfingen.
 
5
 
Am nächsten Tag schien wieder die Sonne.
„Ich glaube, wir haben die Regenzeit überstanden“, sagte ich.
Wie sehr ich mich getäuscht hatte, mußten wir schon am gleichen Tag erleben. Zunächst aber waren wir auf dem Heimweg im altersschwachen Inselbus, eingekeilt wie nie in unserem ganzen Leben zwischen dicken und dünnen Gestalten und schwitzten uns die Seele aus dem Leib. Nachdem wir morgens mit dem gleichen Gefährt in anderthalb Stunden die 30 Kilometer bis zum Fährhafen gekrochen waren, in dessen Nähe das Einkaufszentrum war, kauften wir im größten und modernsten Supermarkt, den wir je sahen, mehr als wir zu tragen vermochten. Man hätte fast vergessen können, daß man sich in der Dritten Welt befand, wenn nicht an jeder Kasse ein Kind gestanden hätte, das die Waren in Tüten oder Kartons einfüllte und dann auf einem Karren zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle brachte. Die kleinen Körper bewegten sich flink, denn die Konkurrenz war groß. Barfuß und in zerschlissenen Kleidern bildeten sie einen grotesken Gegensatz zu der Welt aus Chrom und Plastik dieses Konsumtempels.
Ein milchkaffeebrauner Bub mit rotblondem Kraushaar von ungefähr 12 Jahren karrte uns unsere Ware zur Bushaltestelle. Es machte mich verlegen. Als es eine kleine Böschung hinaufging und er sich schwer tat, wollte mein Willi ihm helfen, doch der Kleine wehrte giftig und ungestüm ab. Ich wußte nicht, wieviel Trinkgeld ich ihm geben sollte, griff nach irgendeiner Münze und stecke sie ihm nach getaner Arbeit zu. Nach einem flüchtigen Blick darauf schaut er mir mit einer Verachtung in die Augen, die größer nicht hätte sein können und schleuderte mir das Geld vor die Füße. Er warf den Kopf in den Nacken und schob mit seinem Karren ab. Ich wäre am liebsten in den Boden versunken.
Endlich kam der Bus vom Hafen herauf gekrochen. Er war schon brechend voll. Als sich die Tür öffnete, stand vor mir eine Menschenwand. Außer uns warteten mindestens noch zehn Frauen mit Einkäufen beladen und mit Kindern am Rockzipfel. Sie drängten mich zur Seite, als ich zögerte einzusteigen.
„Jetzt mach schon“, sagte mein Willi unwirsch. „Wer weiß wann der nächste Bus fährt.“
Und dann erlebte ich aufs Neue das Wunder, daß auch in den vollsten Bus immer noch Leute hineinpassen. Die, die einen Sitzplatz innehatten, nahmen sich hilfsbereit der Einkaufstüten und Taschen der anderen an, verstauten sie unter den Sitzen, zwischen den Beinen und -zusammen mit den Kleinkindern - auf dem Schoß. Trotz der Enge und der Hitze war keinerlei Gereiztheit zu spüren, jeder ergab sich gelassen in sein Schicksal. Ich staunte über meinen Willi, der sich niemals am Samstag oder zu einem Schlußverkauf in ein Kaufhaus begab, weil er die aggressive Enge der Menschenmenge nicht ertragen kann. Nun stand er stoisch da, im Schweiße seines Angesichts.
Über den Lärm des Motors hinweg rief ich ihm zu: „Du bist aber ganz schön tapfer.“
Er grinste und sagte: „Mir bleibt ja nichts anderes übrig. Wenn ich mich bei der Affenhitze aufrege, trifft mich sicher der Schlag.“
Obwohl der Bus so voll war, daß sich bestimmt die Achsen bogen, hielt er immer wieder am Straßenrand und nahm Leute mit. Allerdings kroch er jetzt noch langsamer, als auf der Hinfahrt, und die kleinste Steigung nahm er unter lautem Röhren und im Schrittempo.
Auf halbem Weg versperrte uns eine Gruppe von sieben Pferden den Weg. Es waren zwei Hengste, vier Stuten und ein Fohlen. Das Fohlen lag auf dem Asphalt, Mutter und Tanten zupften nachlässig Gras am Straßenrand, während sich die beiden Hengste eine kleine Machtprobe lieferten. Sie bäumten sich voreinander auf, schlugen sich mit den Hufen und waren so vertieft in ihre Händel, daß sie den herannahenden Bus gar nicht beachteten. Wir mußten anhalten. Der Fahrer schlug immer wieder auf die Hupe ein, die nur ein treuherziges „miiiiiiieg“ fispelte. Das Fohlen schaute erwartungsvoll her, die Pferdedamen zupften weiter am Gras. Erst als der Fahrer den Arm aus dem Fenster streckte und mit der flachen Hand gegen das Blech der Tür trommelte, ergriffen die Pferde die Flucht. Sie galoppierten mit wehenden Mähnen vor uns her, die Straße entlang, und verschwanden nach etwa hundert Metern in einem Feldweg.
Kurz vor dem Eingang des Dorfes lag eine armdicke, vielleicht eineinhalb Meter lange Schlange mitten auf der Fahrbahn. Ich bemerkte sie erst, als der Busfahrer etwas rief und der ganze Bus in ein Gebrüll ausbrach. Die Schlange glitt auf die Gegenfahrbahn, der Busfahrer zog das Steuer scharf nach links und versuchte, unter dem anfeuernden Gejohle der Fahrgäste, das Tier zu überfahren. Es wäre ihm um ein Haar auch gelungen, aber im letzten Augenblick schleuderte die Schlange ihren ganzen Körper hoch, flog im Bogen durch die Luft und verschwand im Gras. Alles lachte und krakeelte, während der Fahrer nur mit Müh und Not das schlingernde Fahrzeug wieder in die Gewalt bekam.
Fünf Stunden nach unserer Abfahrt am Morgen waren wir wieder daheim. Mein Willi trug, was er tragen konnte, während ich mit dem Rest wartete. Schließlich hatten wir nach und nach alles heim geschleppt. Einen Sack mit 10 Kilo Orangen, Lebensmittel für die ganze Woche und zehn kleine Flaschen Guaraná, eine sehr anregende Limonade aus einer einheimischen Frucht. Diese Limonade war sehr billig. Teuer war nur das Flaschenpfand.
„Aber das bekommen wir ja wieder, wenn wir die Flaschen abgeben“, sagte ich, als wir vor der Wahl standen, zwei große oder lieber die kleinen Flaschen zu nehmen.
Wir entschieden uns für die kleinen, wegen der Kohlensäure. Es sollte mit Abstand die teuerste Limonade unseres Lebens werden. Leider stellten wir das erst fest, als wir schon insgesamt vierzig Flaschen zu je einer Mark Pfand gekauft hatten.
 
                                                  6
 
Gegen Abend zogen schwere Wolken auf. In der Nacht raste ein Sturm über das Meer heran, und es begann fürchterlich zu regnen. Es schüttete fast unaufhörlich tagelang und die Temperatur sank bis auf 8°C. Niemals hätten wir uns solche Kälte in diesen Breiten vorstellen können. Da unser Haus, wie auf der Insel üblich, keine Fensterscheiben hatte, sondern nur die Fensterläden, durch deren Lamellen der Wind ungehindert in die Häuser blies, froren wir erbärmlich. Jetzt waren wir froh, daß wir unsere Daunenjacken dabei hatten.
Wir saßen bei geschlossenen Fensterläden in der Küche, vor der geöffneten Backofentür, in unsere Jacken gehüllt, spielten tagelang Karten und schlürften heißen Tee. Dieses Herumsitzen in der feuchten, kalten Düsternis, als einzige Ablenkung unsere Spielkarten, drückte sehr auf unsere Gemüter. Meinem Willi platzte alle naselang der Kragen, ich brach jedesmal in Tränen aus. In den kurzen Regenpausen stellten wir uns an die offene Haustüre und schauten auf die überschwemmte Plaza hinaus. Die wenigen Menschen, die vorbeikamen, waren auch nicht anders angezogen, wie an den heißen, sonnigen Tagen, nur hatten sie sich ein oder zwei Handtücher über die Schultern gelegt. Wie sehr mochten sie frieren, da es uns ja trotz unserer Jacken kalt war. Und erst recht nachts. Grau hing der Himmel über dem erdbraunen Meer und es sah aus, als ob nie wieder die Sonne scheinen wollte.
Irgendwann landeten die Spielkarten in der Ecke, denn mein Willi hatte es satt, dauernd zu verlieren. Er hüllte sich in Schweigen und durchbohrte mit erbittertem Blick den Gasherd, während ich genauso erbittert den Küchenschrank anstarrte und mich den finstersten Zukunftsgedanken hingab.
 
                                                  7
 
Am Samstag hatte sich das Wetter beruhigt. Wir machten uns am späten Vormittag auf nach Salvador, um das Wochenende mit Lili und Victor zu verbringen. Da wir bis zu diesem Zeitpunkt die Abfahrtszeiten nicht hatten herausfinden können, standen wir lange herum, bis der Bus endlich kam. Übrigens gelang es uns in den sieben Wochen unseres Inseldaseins nicht, herauszubekommen, wann der Bus fährt. Selbst der Fahrer zuckte die Schultern, und ich weiß bis heute nicht, ob er unsere Frage einfach nicht verstand oder selber nicht wußte, wann er fahren würde. So kam es, daß wir manchmal Glück hatten und nur kurz warten mußten, bis sich das alte Vehikel schnaubend und stöhnend in Gang setzte. Manchmal jedoch standen wir über eine Stunde, bis es die Dorfstraße entlang geröchelt kam, in einer schwarzen Wolke aus Abgasen umdrehte und dann erst einmal für ungewisse Zeit von seinem Fahrer im Stich gelassen wurde. Zumindest durfte man schon einsteigen, während der Chauffeur in einer der Gassen mehr oder weniger lang verschwand. 
Als wir an jenem Samstag endlich an der Anlegestelle der Fähre standen, hatte sie gerade abgelegt. Zwei Stunden später wehte auch uns der Wind am Bug des weißen Dampfers um die Nase, und die sechzig Minuten der Überfahrt wären wie im Flug vergangen, wenn es mir von der leisen Schaukelei der Wellen nicht so übel gewesen wäre. Ich war froh, als wir an Land gingen. Wir hatten mit Lili abgemacht, daß wir sie vom Hafen aus anrufen würden, damit sie uns beim ersten Mal an der Bushaltestelle in der Nähe ihres Hauses abholen konnte. Mein Willi durchforstete seine Hosen- , Hemd- und Brieftaschen, schüttete den Inhalt unseres Matchsackes auf eine Bank, trotz meines Einspruchs den meiner Handtasche dazu, um am Ende völlig entnervt festzustellen: „Du hast die Adresse und Telefonnummer nicht eingepackt.“
„Wieso ich? Du hast sie dir doch auf einem Zettel notiert, nicht ich.“
„Aber du hättest wenigstens daran denken können“, fuhr er mich an und stopfte alles kunterbunt wieder in den Matchsack hinein.
„Wir fahren trotzdem hin, ich finde das sicher auch ohne Adresse“, sagte mein Willi, als er sich von seinem Ärger etwas erholt hatte.
Wir erinnerten uns weder, wie der Stadtteil hieß, noch die Straße, wo unsere Freunde wohnten, aber beide wußten wir noch, welche Buslinien in Frage kamen. Wir vertrauten auf unseren Ortsinn, der sich des öfteren als gar nicht so schlecht herausgestellt hatte.
Die nun folgende Szene, die sich mit kleinen Abweichungen jedes Wochenende abspielte, ist nur schwer vorstellbar, wenn man es nicht selber erlebt hat. In den deutschen Städten dürfte der Bahnhofsplatz der Ort sein, an dem die meisten Buslinien vorbeifahren. Ich habe in meinen Stuttgarter Jahren oft am Bahnhofsvorplatz auf irgendeinen Bus gewartet. So alle paar Minuten fährt einer heran, hält, man vergewissert sich, das es auch die Linie ist, mit der man fahren will. Im Zweifelsfall fragt man den Fahrer, der dann mehr oder weniger mürrisch Auskunft gibt. Vielleicht muß man auch einen oder zwei andere Linien abwarten. Dabei steht man, je nach Temperament geduldig oder ungeduldig auf dem Gehweg und harrt des Busses, der da kommt.
Nicht so am Hafen von Salvador, wo die Busse pausenlos auf allen drei Fahrspuren in Scharen heranbrausen, überhaupt keine Halteabsicht zeigen, sondern ehe man die Nummer der Linie erkennen kann, bereits mit Vollgas vorbeigefahren sind. Auf mindestens hundert Meter Länge verteilt, kämpft die Menge Arme schwenkend darum, mitgenommen zu werden. Zunächst standen wir hilflos und schauten zu, um die Spielregeln zu erlernen, aber wirklich gelernt haben wir sie nie, denn selbst nach sieben Wochen lagen wir im Rennen immer noch ganz hinten. Ich schäme mich fast, es zu gestehen, daß wir meist über eine Stunde brauchten, um einen Bus zu bekommen. Standen wir am Kopfende der wartenden Menge, hielt unser Bus eher im Mittelfeld und bis wir atemlos angerannt kamen, war er längst um die nächste Ecke verschwunden. Stellten wir uns im Mittelfeld auf, hielt er ganz vorn oder ganz hinten. Meist hielt er überhaupt nicht, weil er auf der zweiten oder dritten Spur angerast kam, und uns die Kaltblütigkeit der anderen fehlte, uns einfach zwischen den haltenden Bussen hindurch auf die Straße zu stürzen, um uns dem heranstürmenden Gefährt vor die Stoßstange zu werfen. Manchmal kamen wir erst abends auf das Festland, dann war es schon dunkel. Dieser Umstand erschwerte unsere Lage in jeder Hinsicht außerordentlich. Einmal rannten und fuchtelten wir geschlagene zwei Stunden, geblendet vom Scheinwerferlicht der nicht abreißenden Kette von Bussen, an der Haltestelle herum. Lili weinte, als wir endlich kamen, denn sie hatte geglaubt, uns sei etwas passiert.
Heute freilich hatten wir Glück. Nachdem wir das Treiben eine Weile beobachtet hatten, dann winkend auf und ab gelaufen waren, stellte uns das Schicksal eine Großfamilie zur Seite, die lautstark und gestenreich unsere Buslinie genau vor uns zum Stehen brachte. Oma und Opa, beide umfangreich und asthmatisch, wurden zuerst die Stufen hinaufgehievt; dann kam das ganz kleine Gemüse, das sich mit den Patschhändchen an Omas Rock klammerte; hinterdrein latschte der Haufen Halbstarker, bepackt mit verschnürten Kartons, Plastiksäcken und einem Ballen aus Rupfen; ihnen folgte die ausgemergelte Mutter im geblümten Perlonkleid, mit einem bunten Tuch auf dem Kopf und schließlich der Vater, der mit großer Geste einen Geldschein aus der ausgefransten Hosentasche zog.
Wir setzten uns ganz vorn in den Bus. Zunächst konnten wir uns entspannen, denn es lag ein gutes Stück Weg vor uns. Nach einigem hin und her verließen wir die Innenstadt, fuhren der Küste entlang und bogen schließlich in eine breite Avenida ein.
„Jetzt kann es nicht mehr weit sein“, sagte mein Willi, nachdem wir schon eine Stunde gefahren waren, setzte sich sehr aufrecht hin und schaute angespannt nach rechts und links. Als wir beide der Meinung waren, daß wir über das Ziel hinausgeschossen waren, stiegen wir aus und gingen die lange, heiße Straße ein Stück zurück.
„An diesen kleinen Platz dort drüben, mit dem lila blühenden Baum, kann ich mich noch erinnern,“ sagte mein Willi.
Auch mir kam die Stelle bekannt vor. Langsam schlender
 

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